Aleph, der neue Roman von Paolo Coelho
Buchrezension von Christine Wawra
Die Wahrheit ist die wirkungsvollste Maske, hinter der sich ein Schriftsteller verbergen kann – allerdings gehorcht die Maske dabei eigenen Gesetzmäßigkeiten. Nach diesem Prinzip schrieb bereits Johann Wolfgang Goethe seine Autobiografie „Dichtung und Wahrheit“ und schickte damit Generationen von Lesern und Wissenschaftlern auf Spurensuche und an der Nase herum. Die Grenzen zwischen Realität und Fiktion sind fließend, oder: Wen meint ein Autor, wenn er „ich“ schreibt.
Das literarische „Ich“ ist die Hauptfigur in „Aleph“, dem neuen packenden Roman des brasilianischen Autors Paolo Coelho, der wieder einmal die Bestsellerlisten der Welt stürmt. Seine Kunst, den Leser Lebensweisheit und -mut an die Hand zu geben, führt er hier zu einem Höhepunkt. Das Buch gibt sich den Anschein eines Bekenntnisses: Inmitten einer Lebenskrise begibt sich der Schriftsteller auf eine Reise mit der Transsibirischen Eisenbahn – die Zugfahrt wird zur Metapher für das Leben selbst. Durch die Begegnung mit einer Geigerin gerät er in die Parallelwelt früherer Leben. In einem davon war er für die Hexenverbrennung der jungen Frau mitverantwortlich. Das „Aleph“, per definitionem der erste Buchstabe der hebräischen Alphabets, entspricht im Roman einem zwischen zwei Waggons gelegenen magischen Raum, der die Schau der Vergangenheit im Sinne einer schamanischen Reise erst ermöglicht. Der Konflikt aus der Zeit der Inquisition setzt sich geradewegs in der Gegenwart des 21. Jahrhunderts fort, die Anziehung zwischen dem alternden Mann und der jungen Frau ist für beide existenziell und könnte zur Zeitbombe werden. „Werden sie miteinander schlafen, und wird er seine Frau betrügen?“ ist über viele Seiten die schlicht gestrickte Frage. Die Lösung ist mehr als ein ‚Ja‘ oder ‚Nein‘, weil sie die Geschehnisse von deren Grund her erklärt. Denn hinter allen Sex-and-Crime-Motiven verbergen sich bereits aus anderen Werken bekannte Sichtweisen Coelhos auf das Leben, auf dessen Sinn, und auf die– unserer Kultur nicht geläufige – Reinkarnation. Für Sätze wie die folgenden verehren ihn seine Fans und bezichtigen ihn seine Feinde der Scharlatanerei:
Alle Menschen, mit denen wir in der 'Vergangenheit' Probleme hatten, tauchen in unserem Leben wieder auf, in dem, was die Mystiker das Rad der Zeit nennen. Mit jeder Inkarnation werden wir uns dessen bewusster, und nach und nach werden diese Konflikte gelöst. Wenn überall die Konflikte aller Menschen geklärt sind, wird die Menschheit in eine neue Phase eintreten.
Coelho ist zu versiert, um nicht mit seinem Instrument – der Sprache und ihren Bildern – zu spielen. Die Unverblümtheit und Offenheit, sein Befindlichkeits-Striptease, sind vor allem Mittel zu dem Zweck, eine Geschichte zu erzählen. Doch beherrscht der Erfolgsautor nicht nur die Kunst, seine Leser zu erreichen. Vielmehr erweitert er die materielle Welt um eine viel umfassendere unsichtbare, die sich zur sichtbaren verhält wie der Eisberg zu seiner Spitze. Das ist als Fiktion faszinierend, und noch faszinierender die Vorstellung dass es nicht nur eine Fiktion ist.
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